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Grafik: Presse Appell: Blick auch auf Assistenz zu Hause richten


Kassel (kobinet) Frieder Nebe vom Assistenzdienst des Kasseler Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter (fab) hat sich mit einem Appell an die taz und andere Medien gewandt. Er appelliert darin, auch über die Herausforderungen der Erbringung der Assistenz in der eigenen Wohnung und durch Ambulante Assistenzdienste in Zeiten der Corona-Pandemie zu richten und damit die Selbstbestimmung behinderter Menschen sicherzustellen.

Appell von Frieder Nebe an die Medien

Wenn ihr Reportagen schreibt, mögt ihr vielleicht eine Geschichte über uns in der Corona-Krise schreiben, denn wir sind die letzten in der Kette, wir sind buchstäblich am Arsch. Der Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter (fab) www.fab-kassel.de erbringt Assistenz bei schwerstbehinderten Menschen, die mit Muskeldystrophie, MS, Querschnitt, Polio und einigen anderen Behinderungen und Erkrankungen zu Hause mit 24 Stunden Assistenz durch uns unterstützt werden. Wir sind von daher auch ein zugelassener Pflegedienst nach SGB XI. Wir haben über 200 Kund*innen und ca. 550 Assistent*innen, die diese Arbeit vor Ort in den Wohnungen der Kund*innen erbringen, so wie bei euch in Berlin die Ambulanten Dienste oder Lebenswege. Die Assistent*innen sind alles Laienkräfte, die durch unsere Kund*innen oder durch uns aus der Regie angelernt werden. Ein sehr gutes und funktionierendes Konzept, das ein selbstbestimmtes Leben trotz schwerster Behinderung außerhalb von Einrichtungen in der eigenen Wohnung ermöglicht.

Das besondere bei uns ist unser Kundenkreis. Während normale Sozialstationen oder Pflegedienste spätestens bei nächtlichem Bedarf an ihre Grenzen gelangen, sind wir 24 Stunden, 7 Tage die Woche da und erbringen unsere Leistungen. Menschen mit Pflegegrad 2 und 3 sind bei uns nur im geringen Umfang vertreten. Menschen mit den hohen Pflegegraden 4 und 5, die sonst kaum einer versorgen kann (und die dann ins Heim kommen) sind unser hauptsächlicher Kund*innenkreis. Und alle sind aufgrund ihrer Erkrankungen oder Behinderungen eine Hochrisikogruppe.

Nun redet alle Welt von Intensivstationen und Krankenhäusern. Manchmal noch von Behinderteneinrichtungen und Altenheimen. Nie redet einer von Assistenzdiensten oder hat ein Augenmerk darauf. Dabei gibt es in der Republik etliche von uns. Uns fehlt es an Schutzausrüstungen. Wir fangen jetzt an, Mundschutz in Heimarbeit erstellen zu lassen: https://media.essen.de/media/wwwessende/aemter/0115_1/pressereferat/Mund-Nasen-Schutz__Naehanleitung_2020_Feuerwehr_Essen.pdf

Ansprechpartner*innen gibt es natürlich beim Gesundheitsamt keine, die sind genauso überlastet wie wir. Wenn Corona jetzt in unseren Reihen zuschlägt, können wir unsere Kund*innen nicht wirklich schützen. Eine Quarantäne einer Kundin könnten wir so nicht durchführen. Heute, am Vorabend der Krise könnten wir sie vielleicht noch - aber nur vielleicht - im Krankenhaus "loswerden". Spitzt sich die Lage zu, sind wir auf uns alleine gestellt. Und kommt es zu italienischen Verhältnissen ist schon klar, wer aufgrund der Vorerkrankungen vor der Krankenhaustür bleibt.

Eine öffentliche Aufmerksamkeit täte uns gut. Nein, nicht uns persönlich, sondern den selbstbestimmt lebenden behinderten Menschen, deren Interessen wir umsetzen und für die wir unsere Arbeit erbringen. Da habt ihr von den Medien die Möglichkeit. Ich selber bin im fab die leitende Pflegekraft, das ist sowas wie die Pflegedienstleitung in anderen Diensten. Zusammen mit meinem Kollegen leite ich diesen großen Dienst. Wir sind in Kassel beheimatet, ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr über uns berichten würdet.

kobinet-nachrichten, 23. März 2020