Dieter Juchatz zeigt den Alltag von Rollstuhlfahrern im Vorderen Westene
Von Kathrin Meyer
Das Thema
Barrierefreiheit heißt die Forderung, das Umfeld so zu gestalten, dass
auch Menschen mit Behinderungen damit zurechtkommen. Der 5. Mai gibt als internationaler
Protesttag Anlass, daran zu erinnern. Auch in Kassel sind im öffentlichen
Raum noch längst nicht alle Hürden beseitigt.
Kassel. Lautlos rollt Dieter Juchatz über die Schwelle des Biomarkts
Denn`s am Bebelplatz. Die elektrische Tür gleitet auf und der Rollstuhlfahrer
reiht sich vor die anderen Kunden vor der Gemüseauslage.
Doch so einfach wie hier ist es nicht überall. Sich auf dem Weg zur Arbeit
noch einen Kaffee beim Bäcker holen: Für viele jeden Morgen selbstverständlich.
Für den 52-jährigen Juchatz nicht. Gerade in Vierteln mit vielen
Altbauten, wie dem Vorderen Westen, bieten sich Rollifahrern zahlreiche Hürden,
die Fußgänger unbewusst mit Leichtigkeit überschreiten. Zum
Beispiel die drei Stufen vor dem Bäckerladen: „Für mich ein
unüberwindbares Hindernis“, sagt er. Und rollt vor den Eingang.
In diesem Moment zeigt sich auch für den außenstehenden Beobachter:
Die Fußrasten des Rollstuhls bieten keinerlei Flexibilität. So
lassen sich ohne fremde Hilfe selbst kleinste Unebenheiten kaum überwinden.
Der gebürtige Münsterländer hat vor seiner Pensionierung viele
Jahre, trotz Behinderung, in der Beratung eines Telekommunikationsunternehmens
gearbeitet. Seit acht Jahren lebt er in Kassel. Es sei für Rollstuhlfahrer
einfacher, in einer größeren Stadt zu leben, meint er. „Da
ist die Chance größer, einen barrierefreien Eingang zu finden.“
Es gebe zwar immer helfende Hände oder er könne sich an der Schaufensterscheibe
bemerkbar machen, aber er fühle sich eingeschränkt. „Es gibt
viele gute Beispiele in Kassel“, sagt Juchatz. Aber Hürden bleiben
trotzdem. Im Sommer fühlten sie sich kleiner an, weil man überall
auch draußen bewirtet wird. Doch der Vordere Westen ist ein Stadtteil
mit vielen Gründerzeitvillen. Bei ihrer Erbauung war Barrierefreiheit
noch kein Thema. „Zu dieser Zeit gab es noch keine Rollstühle oder
Rollatoren“, sagt Juchatz. „Das ist ein Problem im gesamten Viertel“,
bestätigt auch Wolfgang Rudolph, Ortsvorsteher des Vorderen Westens.
Beim Umbau des Bebelplatzes sei versucht worden, Barrieren zu vermeiden, aber
das sei nur vereinzelt geglückt. „Bei vielen der Häuser müsste
die Kellerdecke versetzt werden, um das Gefälle auszugleichen“,
erklärt Rudolph. Aber wenige Zentimeter könnten mit einem Holzbrett
überbrückt werden. „Wenn die Cafébesitzer Tag für
Tag ihren Sonnenschirm aufspannen, könnten sie auch einfach schnell ein
Brett für Rollstuhlfahrer rausstellen“, sagt er. Wichtig sei ihm,
diese Probleme mehr ins Bewusstsein der Menschen zu rufen.
Aktionen zum Protesttag
Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter
Der Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter (fab) ist am heutigen
Freitag, 4. Mai, mit einem Informationsstand am Bebelplatz vertreten. Unter
anderem können sich Passanten an einer „Barrieretafel“ über
die Zugänglichkeiten in Cafés, Geschäften und Restaurants
informieren.
„Aber Barrierefreiheit meint nicht nur Einschränkungen auf räumlicher
Ebene“, sagt Birgit Schopmans von fab, „sondern beispielsweise
auch Speisekarten, die in Blindenschrift gedruckt werden.“ Für
Rollstuhlfahrer sei ein barrierefreier Eingang schon eine große Erleichterung,
aber man müsse noch weiterdenken. Hohe Supermarktregale seinen beispielsweise
sowohl für Rollstuhlfahrer als auch ältere Menschen nur schwer zu
erreichen. Der Protesttag soll in erster Linie dazu dienen, dieses Anliegen
ins Bewusstsein der Menschen zu rufen, nur so könne es gelingen, eine
Gleichberechtigung im Lebensalltag von Menschen mit und ohne Behinderung zu
erreichen, so Schopmans Fazit.
Quelle: HNA, 05.05.2012