Wenn Ohren zu Augen werden: Dunkelheit im Sinnes- Parcours –
Wie blinde Menschen die Welt erleben
KASSEL. Wagen Sie ein Experiment: Lassen Sie nachts in
der Wohnung die Rollläden herunter, bis es stockduster ist. Sie dürfen
ihre Hand vor Augen nicht sehen. Dann gehen Sie durch die Wohnung und suchen
das Telefon, putzen sich die Zähne und ziehen sich an – aber so,
dass die Kleidungsstücke zueinander passen.
Schwierig? Für blinde Menschen Alltag.
Sie haben keine Rollläden, wollen dennoch nachvollziehen können,
wie es ist, auf sein Augenlicht verzichten und sich auf alle anderen Sinne
verlassen zu müssen? Das zeigt Ihnen der Kasseler Verein Fab –
das steht für Förderung der Autonnomie Behinderter.
Der hat im Café Freiraum an der Friedrich- Ebert- Straße 92 einen
Dunkel- Parcours aufgebaut, zwei Räume, in denen es stockduster ist.
Die Tür geht auf, bitte eintreten, dann wird es dunkel. Nichts mehr zu
sehen. Schwarz.
„Herzlich Willkommen“, sagt eine Stimme aus dem Nichts. Es ist
Birgit Riester. Sie ist eine derjenigen, die eine halbe Stunde durch den Parcours
führen. Sie selbst ist blind. „Bitte gehen Sie rechts an mir vorbei.“
Bitte wohin? Wo steht sie denn? Klingt nahe. Oder? Also langsam vortasten.
Nein, da ist die Wand. „Wenn Sie an mir vorbei sind, kommt rechts ein
Regal.“ Ah, ihre Stimme ist ganz nah. Und da ist das Regal.
„Fassen Sie in die Fächer. Was steht drin?“ Die Finger erkennen
Tablettenschachteln, ein Telefon, Schuhe, ein Stofftier. War gar nicht so
schwer. „Und welche Tabletten stecken in den Schachteln?“ Da helfen
die Finger nicht weiter.
„Gehen Sie jetzt bitte rechts an mir vorbei. Auf der rechten Seite stehen
zwei Sofas. Bitte nehmen Sie Platz“, sagt Birgit Riester, die plötzlich
wieder irgendwo steht. Sofas? Die Suche beginnt in gebückter Haltung.
Eine Hand sucht nach der Armlehne, die andere ist etwas höher und tastet
nach Widerständen, die dem Kopf wehtun könnten.
Ah, da sind sie. Aber da sitzt schon jemand. „Entschuldigung.“
Also ein Sofa weiter. Jetzt werden die anderen Sinne getestet. Zuerst der
Geschmack. Birgit Riester holt von irgendwoher ein Tablett. Die Finger fassen
eine kleine Kugel. Ein Tischtennisball? Der Tastsinn hilft nicht weiter. Auch
der Riechsinn nicht. Also in den Mund damit. Was es ist, soll hier aber nicht
verraten werden, haben sich die Organisatoren gewünscht. Der Effekt solle
künftigen Besuchern nicht genommen werden.
Die Augen haben sich daran gewöhnt, dass sie jetzt nichts zu sagen, besser:
zu sehen haben. Beinahe ist es entspannend. Nur das leichte Flimmern ab und
zu ist unangenehm. „Okay, wir gehen weiter.“ In die Natur –
mal mit weichem Untergrund, mal mit grobem. Die Füße werden sensibler,
genau wie die Finger. Es gibt noch viel zu tasten und zu entdecken. Nur die
Orientierung über die Ohren funktioniert noch mangelhaft. Wo steht Birgit
Riester? Ach, an der Tür. Plötzlich wird es hell.
Keine Angst haben, nicht zu schnell helfen
KASSEL. „Es gibt nicht nur den Sehsinn“, sagt
Birgit Schopmans vom Verein Fab. Auch wenn heute vieles auf visuelle Darstellung
ausgerichtet sei. Die Besucher des Parcours „Alles ohne Licht“
sollen ihre anderen Sinne entdecken: den Tast-, Hör-, Geruchs- und Geschmackssinn.
Nach dem Parcours können die Besucher darüber sprechen, wie es ihnen
ergangen ist. So soll ein Dialog entstehen, wünschen sich die Organisatoren.
Ein Dialog, durch den Menschen, die nicht blind sind, drei Dinge lernen sollen.
Erstens: Sie sollen im Umgang mit blinden Menschen keine
Angst haben Fehler zu machen. Ein „Auf wieder sehen“ etwa verletze
keinen Blinden.
Zweitens: Nicht überfürsorglich sein. Der Tipp
von Birgit Schopmans: Wer einem blinden Menschen helfen will, muss ihn vorher
fragen, ob er Hilfe braucht. Nicht einfach am Arm greifen und über die
Straße bringen.
Drittens: „Weg vom Mitleidsdenken.“ (abg)
Alles ohne Licht: Café Freiraum, Friedrich- Ebert- Straße
92. Der Parcours ist geöffnet täglich bis zum 22. Juli, jeweils
von 13.30 bis 18 Uhr. Gruppen ab vier Personen sollten sich anmelden. Kosten:
2 bis 6 Euro pro Person. Infos: Tel. 0561/ 72 22 524, E-mail: birgit.schopmans@fab-kassel.de
Quelle: HNA am 11.07.2007