Kassel (kobinet) Wer kennt das nicht? Man ist neu in einer Stadt oder in
einer Gegend, in der man noch nie mit dem Bus oder der Straßenbahn unterwegs
war. Und ausgerechnet dann gibt es keine Haltestellendurchsagen bzw. sind
diese nicht verständlich. Da kann der Anlass der Reise noch so schön
sein. Wenn die Unsicherheit steigt, ob man die richtige Haltestelle zum Aussteigen
erwischt, kann die Fahrt leicht zum Stress werden. Für blinde und sehbehinderte
Menschen sind solche verunsichernde Situationen bei der Nutzung von Bussen
und Bahnen Alltag, denn sie sind verstärkt auf gute und verständliche
Informationen angewiesen. In Kassel haben sich nun Vertreter*innen von Behindertenorganisationen
und Verantwortliche der Kasseler Verkehrsgesellschaft (KVG) und des Nordhessischen
VerkehrsVerbunds (NVV) getroffen, um die Barrierefreiheit bei Durchsagen in
Bussen und Bahnen zu verbessern.
Begonnen hatte dieser Prozess mit der Politikstudentin Mandy Müller,
die im Frühjahr und Sommer 2022 beim Kasseler Verein zur Förderung
der Autonomie Behinderter (fab) ein Praktikum absolvierte. Die engagierte
blinde Frau ist oft mit ihrem Führhund Oris mit Bussen und Straßenbahnen
in Nordhessen unterwegs. Dabei wird sie immer wieder damit konfrontiert, dass
es vor allem in Bussen keine oder nur schlecht verständliche Durchsagen
gibt, welches die nächste Haltestelle ist.
Problem erkannt, im Verein angesprochen und siehe da, Mandy Müller war
nicht allein mit diesen Herausforderungen. Andere blinde und sehbehinderte
Menschen hatten ähnliches zu berichten. Und auch für Rollstuhlnutzer*innen,
denen aufgrund ihrer Sitzanordnung nicht immer der Blick auf die visuellen
Anzeigen möglich sind, zeigten sich zuweilen ebenfalls verunsichert,
die richtige Ausstiegshaltestelle zu erwischen.
Birgit Schopmans vom Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter (fab)
und Petra Willich vom Verein Selbstbestimmt leben in Nordhessen (SliN), die
beide ebenfalls blind sind, hatten in ihrer Beratungstätigkeit immer
wieder ähnliche Rückmeldungen bekommen, dass die Mobilität
behinderter Menschen massiv durch fehlende bzw. schlecht verständliche
Durchsagen in Bussen und Bahnen eingeschränkt ist. So wurde ein engagierter
Prozess zur Verbesserung der Situation eingeleitet. Beschwerden mit konkreten
Angaben der Einstiegshaltestelle und Uhrzeit der Fahrten wurden in das Beschwerdemanagementsystem
des NVV eingespeist. Busfahrer*innen wurden mit unterschiedlichen Reaktionen
auf die fehlenden Durchsagen hingewiesen und vor allem wurde Kontakt mit den
Verantwortlichen für die Belange behinderter Menschen der Kasseler Verkehrsgesellschaft
(KVG) und des Nordhessischen VerkehrsVerbunds (NVV) aufgenommen. Gut, dass
Mandy Müller für diesen Prozess die nötige Energie mitbrachte.
Da es in Kassel und Nordhessen bereits eine gute und langjährige Gesprächskultur
der Kasseler Verkehrsgesellschaft und dem Nordhessischen VerkehrsVerbund mit
dem Behindertenbeirat und den Behindertenorganisationen gibt, wurde für
den 8. September 2022 ein gemeinsames Treffen beim Verein zur Förderung
der Autonomie Behinderter (fab) angesetzt. In einer sehr engagierten Runde
wurde zu Beginn grundsätzlich festgehalten, dass es eine gesetzliche
Verpflichtung der Verkehrsbetriebe zur Barrierefreiheit gibt und dass dazu
auch die Barrierefreiheit der Durchsagen nach dem Zwei-Sinne-Prinzip gehört.
Darauf aufbauend war der Weg für eine konstruktive und äusserst
engagierte Diskussion und Planung der weiteren gemeinsamen Aktivitäten
zur Verbesserung der Durchsagesituation frei.
Der NVV und die KVG machten sich ans Werk. Sie überprüften die bisherigen
technischen Rahmenbedingungen und machten Vorschläge zur Optimierung
der Situation. Der Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter (fab)
sammelte Beispiele mit Busfahrten, bei denen die Durchsagen nicht zu hören
waren oder fehlten. Diese Liste diente unter anderem dazu, dass die Verkehrsbetriebe
dort nachhaken, bzw. sich die technische Situation in den Bussen anschauen
konnten. Und schließlich wurde ein gemeinsamer Termin vereinbart, um
eine optimierte Durchsagequalität bei einer Fahrt mit einem Bus konkret
zu testen.
Dieser Termin fand nach einigen zwischenzeitlichen Arbeitsschritten am 26.
Oktober 2022 im Betriebshof Sandershäuser Straße der Kasseler Verkehrsgesellschaft
in Kassel statt. Mit dabei waren neben den Vertreter*innen der Verkehrsbetriebe
einige blinde und sehbehinderte Menschen, die die Durchsagequalität testeten.
Der Vorführeffekt trat bei diesem Test nicht ein, so dass sich alle schnell
einig waren, dass die Durchsagequalität im getesteten Bus äußerst
verbesserungsbedürftig ist. So wurde getestet und geschraubt und schließlich
auch einige Ursachen und Lösungsmöglichkeiten für das Problem
gefunden.
Der für alle Seiten bereichernde Praxistest dient nun als Grundlage für
die Optimierung der Durchsagen mit all seinen technischen Finessen und Herausforderungen.
Mandy Müller bot trotz des zwischenzeitlich erfolgreichen Abschlusses
ihres Praktikums an, an der Sache dranzubleiben und nun eine Positivliste
zu erstellen. Nun soll berichtet werden, in welchen Fahrzeugen es mit der
Durchsagequalität gut klappt. Diese Information hilft den Verkehrsbetrieben
für deren Analyse, warum die Durchsagequalität in einigen Fahrzeugen
besser und in anderen schlechter ist. Im Januar 2023 wollen die Beteiligten
sich nach einer entsprechenden Optimierung erneut treffen, um den neuesten
Stand der Entwicklung vor Ort bei einer weiteren Busfahrt zu testen.
Auch wenn bei diesem Prozess viel Energie vonseiten der Selbstvertreter*innen
behinderter Menschen und ihrer Organisationen, aber auch von den Verantwortlichen
und Techniker*innen der Verkehrsgesellschaften nötig ist, wurde damit
ein guter Weg für Verbesserungen beschritten. Ein Weg, von dem letztendlich
alle profitieren. Denn darin waren sich die Teilnehmer*innen des Praxistests
einig: eine gute Informationspolitik und eine gute Durchsagequalität
ist ein zentraler Bestandteil eines modernen und barrierefreien Verkehrssystems.
28.10.2022 Kobinet-Nachrichten