Frankfurter Rundschau, 05.09.03

Grafik: Presse Die Probleme blinder Sekretärinnen werden oft übersehen

Erstes Koordinierungsbüro für behinderte Frauen vor zehn Jahren in Kassel gegründet / Informationsstelle und Anlaufpunkt

KASSEL. Bundesweit einmalig war das "hessische Koordinationsbüro für behinderte Frauen", als es vor zehn Jahren eröffnet wurde. Das Ziel: Eine Kontaktstelle für die landesweit 300 000 behinderten Frauen zu schaffen und Lobbyarbeit zu leisten. Das Konzept des in Kassel ansässigen Büros, das diese Woche sein zehnjähriges Bestehen feiert, hat sich bewährt: Es gibt Nachahmer in anderen Bundesländern.
"Wir wollen behinderte Frauen über ihre Rechte informieren, beraten und stärken, damit sie Mut bekommen, selbstbewusst für ihre Interessen einzutreten", sagt Rita Schroll. Die Sozialarbeiterin ist blind, leitet das Koordinationsbüro - und weiß um die zweifache Benachteiligung der Betroffenen: "Dass sich unsere Lebensbedingungen in vielen Bereichen von behinderten Männern und nicht behinderten Frauen unterscheiden, wird selbst in der Frauen- und Behindertenpolitik noch immer zu wenig beachtet", sagt die 39-Jährige. Das freilich war vor zehn Jahren noch extremer: "Wir mussten uns von Behindertenorganisationen Vorwürfe anhören, was das denn soll, dass wir uns abspalten", erinnert sich Birgit Schopmans, die das Büro in den ersten Jahren leitete, "und auch in der Frauenbewegung hat man sich anfangs schwer getan mit unserem Vorhaben."
Die Ziele des Koordinationsbüros sind gleich geblieben. Dazu gehört Lobbyarbeit zu betreiben durch Information, Vernetzung von Selbsthilfegruppen und -projekten, die Interessensvertretung von Frauen mit den unterschiedlichsten Behinderungen zu stärken, aber auch ihre Vereinzelung und Isolation zu durchbrechen.
Die Angebote des Büros sind vielfältig. Es fungiert zum Beispiel als Informationsstelle: Wer Rat braucht, bekommt ihn oder wird an Fachleute und andere Institutionen weitervermittelt. Ob Literatur oder Veranstaltungstipps gesucht sind, oder auch Therapeutinnen, die Erfahrungen haben mit behinderten Frauen, und Referentinnen, die über die besondere Situation der Betroffenen berichten können: Die Mitarbeiterinnen des Koordinationsbüros können weiterhelfen.
Auch wer eine Selbsthilfegruppe gründen will, kann sich an das Büro wenden und nicht zuletzt diejenigen, die zum Beispiel zur Situation behinderter Frauen forschen. Denn es steht ein in dieser Form einzigartiges Archiv mit über 900 Publikationen zur Verfügung. Überdies gibt das Büro zweimal jährlich die Informationsbroschüre "Angesagt" mit Terminen heraus. Sie ist nicht nur gedruckt zu haben, sondern auch per E-Mail, auf Diskette und - etwa für blinde und sehbehinderte Frauen - auf Kassette. Außerdem veranstaltet das Büro eigene Seminare, wie etwa Moderationstraining, Workshops zur Situation behinderten Mütter und zur beruflichen Situation behinderter Frauen. "Der Bedarf für solche Veranstaltungen ist da",
sagt Rita Schroll, "denn der Erfahrungsaustausch ist vielen wichtig."
Beispiel behinderte Mütter: "Die galten, als wir vor zehn Jahren anfingen, noch als exotisch", erinnert sich Birgit Schopmans, selbst Mutter. "Da mussten wir viel Aufklärungsarbeit leisten, und wir sind noch lange nicht da, wo wir hinwollen." Denn behinderten Frauen werde auch heute noch oft das Recht auf eigene Kinder abgesprochen. Noch ein Beispiel: Arbeitsmarkt. Hier sind die Chancen behinderter Frauen begrenzt: "Nur knapp 30 Prozent der behinderten Frauen in Hessen sind erwerbstätig", sagt Schroll.
Ein weiteres wichtiges Thema: Etwa jede zweite behinderte Frau muss sexuelle Gewalt erleben, sagt Schroll: "Wir fordern, dass sexueller Missbrauch von widerstandsunfähigen Personen ein genauso hohes Mindeststrafmaß bekommt - nämlich ein Jahr - wie der Missbrauch aller anderen." Widerstandsunfähige Personen: Das sind nach Paragraph 179 des Strafgesetzbuches "Personen, die wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung einschließlich einer Suchtkrankheit oder wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder körperlich zum Widerstand unfähig sind." Bei sexuellem Missbrauch widerstandsunfähiger Personen beträgt das Mindeststrafmaß laut Gesetz lediglich sechs Monate. "Der Gedanke dabei ist", erklärt Schroll, "dass ein Täter, der Menschen missbraucht, die keinen Widerstand leisten können, weniger kriminelle Energie hat als einer, der eine Person missbraucht, die sich wehrt," Das sei ein Skandal.
Und so will das Koordinationsbüro, das eng mit der im selben Haus untergebrachten, bundesweit tätigen, politischen Interessenvertretung behinderter Frauen "Weibernetz" zusammenarbeitet und den Aufbau ähnlicher Kontakt- und Beratungsstellen in Lübeck, Hamburg, Münster, Mainz, Berlin, Potsdam, München und Hannover unterstützt hat, auch weiterhin aus dem Blickwinkel behinderter Frauen öffentlich Stellung beziehen. Das Büro, das vom Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter und vom hessischen Sozialministerium finanziert wird, könne weiterhin mit der Unterstützung des Landes rechnen, sagte Sozialministerin Silke Lautenschläger (CDU) beim Festakt am Mittwochabend und kündigte einen Zuschuss von 45000 Euro an. Allerdings deutete sie "angesichts der kritischen Haushaltslage" gleichzeitig Mittelkürzungen an.
> Informationen: Hessisches Koordinationsbüro für behinderte Frauen, Tel.:
0561 / 7 28 85-22, E-Mail: hkbf@fab-kassel.de, Weibernetz e.V, Projektpolitische Interessenvertretung behinderter Frauen, Tel.: 0561 / 7 28 85-86, E-Mail: weibernetz@aol.com, beide im "Zentrum für selbstbestimmtes Leben" (ZsL), Kölnische Straße 99, 34119 Kassel, Internet: www.fab-kassel.de