LWV-Info 4/99
Mit einer kleinen Selbsthilfegruppe fing alles an. Einmal wöchentlich trafen sie sich, um Erfahrungen auszutauschen. Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen, die einiges verband: Benachteiligung und Bevormundung.
Sie wollten kämpfen - für ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und gegen Diskriminierung. Sie gründeten den "Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter" - kurz "fab" e.V.
Das war 1987. Damals engagierten sich die Vereinsmitglieder noch ehrenamtlich - inzwischen beschäftigt "fab e.V." 140 Teil- und Vollzeitkräfte, von denen viele selbst behindert sind. Sie haben ein dichtes Netz von Beratungs- und Unterstützungsangeboten geknüpft, das behinderten und auf Hilfe angewiesenen Menschen ein weitgehend seIbstbestimmtes
Leben außerhalb von stationären Einrichtungen ermöglichen will. fab bietet unter anderem Beratung im Rahmen der offenen Hilfen an, hat einen ambulanten Hilfsdienst aufgebaut - und spezielle Angebote für Frauen im Programm. Außerdem verfügt der Verein über zwölf Plätze im Betreuten Wohnen. Und das ist längst noch nicht alles: fab engagiert sich auch politisch, beteiligt sich etwa am Aufbau eines Landesbehindertenbeirates und setzt sich für ein Hessisches Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz ein.
Alles unter einem Dach
Als Partner des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV) bekommt fab finanzielle Unterstützung aus verschiedenen Töpfen: So finanziert die Hauptfürsorgestelle derzeit Assistenzkräfte für sechs schwerbehinderte fab-Beschäftigte und förderte kürzlich mit rund 280.000 Mark den behindertengerechten Umbau der Räume des fab e.V. im "Zentrum für selbstbestimmtes Leben Behinderter" (ZsL) in Kassel. Zu diesem Zentrum, das vor einigen Monaten in ein neues, größeres Gebäude in der Kölnischen Straße gezogen ist, zählen mehrere Initiativen, Vereine, Organisationen und Projekte aus der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung.
Im ZsL haben neben fab e.V. das "Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter" (bifos), der Behindertenverband "lnteressenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland" (ISL) ihre Geschäftsstellen und Büros. Diese gemeinnützigen Vereine bieten Menschen mit Behinderungen ganz unterschiedliche Beratungs- und Unterstützungsangebote. bifos gibt unter anderem eine Schriftenreihe zum selbstbestimmten Leben behinderter Menschen heraus und organisiert bundesweit Seminare, Kongresse und Tagungen von Rhetorik- und politischen Weiterbildungskursen über Selbstbehauptungstraining bis zu Personalführungsschulungen für behinderte Arbeitgeber. Und die (ebenfalls bundesweit arbeitende) ISL hilft beispielsweise denjenigen weiter, die in ihrer Stadt eine Gruppe oder ein Zentrum für selbstbestimmtes Leben aufbauen wollen. Auch hier unterstützt die Hauptfürsorgestelle des LWV die Arbeit, indem sie Assistenzkräfte für vier schwerbehinderte Beschäftigte finanziert.
Zur ISL gehört unter anderem auch das vom Bundesministerium für Gesundheit mit 1,5 Millionen Mark geförderte Modellprojekt "Wir vertreten uns selbst!", das seit gut eineinhalb Jahren bundesweit Lobbyarbeit für geistig behinderte Menschen betreibt.
Stopp. Schon falsch, würden Andrea Farmer und ihre Kollegen Anke Orbitz und Arndt Kunau jetzt sagen: "Wir werden geistig behindert genannt, aber das ist diskriminierend. Wir sehen uns
selbst nicht so. Und wir wollen wie andere auch ernst genommen werden und gleichberechtigt sein".
So haben sie es erklärt, als sie die Ziele des Projekts beschrieben: Andere Betroffene in Sachen Selbstbestimmung zu unterstützen und beim Aufbau von Selbstvertretungs- und Selbsthilfegruppen zu helfen.
Eine Philosophiegemeinschaft
Ob bifos, ISL oder fab - für sie alle verkörpert der Begriff der Selbstbestimmung Behinderter vor allem die Zugehörigkeit zur internationalen Bürgerrechtsbewegung Behinderter, die für die Gleichberechtigung behinderter Menschen und die Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen eintritt. Und so ist dann auch das ZsL in der Kölnischen Straße, in dem übrigens auch die "Zeitbörse Kassel" ihr Büro hat, weit mehr als eine Bürogemeinschaft: "Wir sind eine Philosophiegemeinschaft" sagt Georg Riester vom fab e.V. "Der Begriff des selbstbestimmten Lebens Behinderter ist für uns alle nicht nur ein Ziel, das beschreibt, wie wir als behinderte Menschen leben wollen, sondern auch Ausdruck eines neuen Denkens, das zusehends in der Behindertenarbeit und -politik greift", erklärt Riester.
Behinderte beraten Behinderte
Das war von Anfang an auch die Idee des fab e.V.: Als eine von Ämtern und Sondereinrichtungen losgelöste Organisation eine unabhängige und an den Interessen der Betroffenen orientierte Beratung anzubieten. "Peer-counceling" (Betroffenenberatung) heißt dabei das Prinzip: Sämtliche Beratungen des fab übernehmen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die selbst behindert sind. "So wollen wir gewährleisten, daß die Berater und Beraterinnen ein besseres Verständnis für die Situation der Ratsuchenden besitzen und aufgrund der Erfahrungen mit ihrer eigenen Behinderung die Bedürfnisse Behinderter besser verstehen und sich besser für die Interessen der Ratsuchenden einsetzen können", erklärt Anita Grießer, Mitarbeiter des fab e.V. Kerngedanke der Beratungsarbeit des Vereins, die aus Mitteln des Programms "Offene Hilfen zur Eingliederung von Menschen mit Behinderungen", das von Land und LWV finanziert wird, ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Das Angebot, für das der LWV als überörtlicher Sozialhilfeträger von 1996 bis 1998 dem fab bereits 225.375 Mark zur Verfügung gestellt hat, richtet sich nicht nur an Betroffene. sondern auch an Eltern und Angehörige. Es gibt Einzelberatung und Gesprächsgruppen und Unterstützung für diejenigen, die etwa aus einem Heim in eine eigene Wohnung umziehen möchten.
Ambulanter Hilfsdienst
Um behinderten Menschen dies zu ermöglichen, gründeten die Initiatoren von fab zusammen mit dem Verein den "ambulanten Hilfsdienst für Behinderte" (AHD) - bis heute eine wichtige und tragende Säule des fab e. V.
Der AHD, für dessen Aufbau der Verein 1988 im Rahmen einer zweijährigen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme seine erste Arbeitnehmerin einstellen konnte, beschäftigt inzwischen 121 "Assistenten". Bewußt spricht man beim fab von "Assistenten", nicht von Pflegern. Der Dienstleistungsgedanke steht im Vordergrund: Die Assistenten werden nach den individuellen Wünschen ihrer Kunden eingesetzt. Stundenweise oder auch rund um die Uhr helfen sie je nachdem bei der Körperpflege, beim Aufstehen und Zubettgehen, im Haushalt, beim Einkaufen oder auch bei Behördengängen. Oberstes Prinzip: Die behinderten Menschen können - anders als bei den meisten anderen ambulanten Hilfsdiensten selbst entscheiden, welche Assistenten sie einsetzen wollen. Denn oft geht
es um Unterstützung bei sehr intimen Dingen, "da muß die Chemie einfach stimmen", sagt Riester, "andere Hilfsdienste schicken den Behinderten aus organisatorischen Gründen oft ständig neue Leute, sie haben einfach keine Wahlmöglichkeit". Der AHD des fab trägt sich selbst, denn die Kunden haben in der Regel Anspruch auf Mittel der Pflegeversicherung, der Krankenkassen, der örtlichen Sozialhilfeträger oder auch des Landeswohlfahrtsverbandes. Wer sich da noch nicht so auskennt, kann sich beim fab beraten lassen - bei Bedarf werden auch entsprechende Anträge gestellt.
Ganzheitliche Beratung
Beratung gibt es auch für diejenigen, die ihre persönlichen Assistenten unabhängig vom fab, von anderen sozialen Hilfsdiensten oder Sozialstationen selbst anstellen und anleiten, abrechnen und selbst die Dienstpläne gestalten möchten also direkt als Arbeitgeber ihrer Assistenten fungieren wollen. "Das ermöglicht den Hilfebedürftigen noch mehr Eigenständigkeit und Flexibilität" sagt Elke Helberg, die bei fab in der "Allgemeinen Beratung" arbeitet. Ob sozialrechtliche oder psychosoziale Fragen, berufliche Orientierung oder Umgang mit Behörden: Wer Rat sucht, bekommt ihn bei fab - oder wird an Fachleute und andere Institutionen weitervermittelt. "Die Leute kommen bewußt zu uns, weil es ihnen hier leichter fällt, zu reden, denn wir sind ja auch behindert", sagt Elke Helberg, "sie erhalten eine ganzheitliche Beratung, und dies, weil wir unabhängig sind, gegebenenfalls auch anonym. Nichts wird weitergegeben, und das zu wissen, ist vielen wichtig".
Betreutes Wohnen
Was in vielen Beratungsgesprächen von Anfang an immer wieder Thema war: Der Wunsch behinderter Menschen nach einer eigenen Wohnung - nach Unterstützung bei der Ablösung vom Elternhaus oder beim Auszug aus einer Behinderteneinrichtung. "Das konnten wir mit den bestehenden Beratungs-angeboten nicht leisten", sagt Georg Riester. Doch nach Gesprächen mit dem LWV und dem Hessischen Sozialministerium konnte fab im Jahr 1993 das Projekt "Unterstütztes Wohnen für
Körper- und Sinnesbehinderte" starten. Heute verfügt der Verein über zwölf Plätze im Betreuten Wohnen, die der LWV allein in den Jahren 1994 bis1998 mit etwa 294.000 DM förderte. Angela Heitbrink und Hannes Schnekenburger teilen sich eine Stelle, beraten und begleiten zehn Behinderte Menschen in der Stadt und zwei im Landkreis Kassel. In den eigenen Wohnungen versteht sich: Die Betroffenen werden in der Regel einmal in der Woche besucht und bei allen Problemen umfassend beraten. "Unter unseren Klienten sind sehr viele junge Leute", erklärt Angela Heitbrink. Da gehe es oft um die Ablösung vom Elternhaus: "Die Eltern können eher loslassen, wenn sie wissen, daß ihr Kind gut betreut wird. Und die jungen Leute selbst bekommen eine Starthilfe, denn wir kommen ja erstmal regelmäßig ins Haus."
... raus auf's Land
Ins Haus kommen auch Anita Grießer und Birgit Nabben: Die beiden rollstuhlfahrenden Diplom-Sozialarbeiterinnen bieten im Rahmen des fab-Projekts "Yentl" Unterstützung für behinderte Frauen auf dem Land. Sie suchen die Betroffenen vor Ort auf und beraten sie vor allem in Fragen der Berufstätigkeit, über Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Dahinter steckt die Erfahrung, daß behinderte Frauen in ländlichen Gegenden oft sehr isoliert leben: "Zu ihrer Benachteiligung als Frau und als Behinderte kommen weitere Benachteiligungen", erklärt Anita Grießer, "das geringe Arbeitsplatz-angebot beispielsweise, auch das oft schlechte und für Menschen mit Behinderung kaum nutzbare Angebot von Bussen und Bahnen". Da drohe der Wunsch nach Veränderung der Lebens- oder Arbeitssituation oft schon im Keim zu ersticken, wenn notwendige Kontakte zu Beratungsstellen, Behörden, potentiellen Arbeitgebern oder einfach auch zu anderen Frauen mit Behinderungen, mit denen Erfahrungen und Informationen ausgetauscht werden, nicht aufgenommen werden können. Diese Lücke versucht "Yentl" zu schließen. Leider nur noch bis Ende des Jahres: Das Projekt, das mit Unterstützung und in enger Zusammenarbeit mit dem LWV und dem Land Hessen im Rahmen des "Hessischen Sonderprogramms" gefördert wurde, läuft nach nunmehr vier Jahren aus, weil es für die Finanzierung eines Dauerberatungsangebotes leider keine gesetzliche Grundlage gibt. Anita Grießer bedauert dies: "Die Nachfrage ist inzwischen sehr groß".
Nachahmer in ganz Deutschland
Das gilt auch für das zweite frauenspezifische Angebot des fab: Das "Hessische Koordinationsbüro für behinderte Frauen". Das war sogar bundesweit einmalig, als es im Sommer 1992 eröffnet wurde. Das Ziel: Eine Kontakt- und Informationsstelle für die landesweit rund 300.000 behinderten Frauen zu schaffen - und gleichzeitig Lobbyarbeit zu betreiben. Das Konzept des Modellprojekts hat sich bewährt: Es gibt Nachahmer in anderen Bundesländern.
"Wir wollen behinderte Frauen stärken, damit sie Mut bekommen, selbstbewußt für ihre Interessen einzutreten", sagt Birgit Schopmans. Die Leiterin des "Hessischen Koordinierungsbüros für behinderte Frauen" ist selbst behindert und weiß um die zweifache Benachteiligung der Betroffenen: "Behinderte Frauen werden oft als Behinderte gesehen, die nur nebenbei weiblich sind", erklärt die junge Frau, "daß sich unsere Lebensbedingungen in vielen Bereichen von behinderten Männern und nichtbehinderten Frauen unterscheiden, wird jedoch selbst in der Frauen- und Behindertenpolitik noch immer zu wenig beachtet". Lobbyarbeit zu betreiben, durch Information, Vernetzung von Selbsthilfegruppen und -projekten die Interessenvertretung behinderter Frauen stärken, aber auch ihre Vereinzelung und Isolation zu durchbrechen, ist Ziel des Koordinationsbüros. Zumindest bis Ende 1999 wird das Büro vom Hessischen Ministerium für Frauen, Arbeit und Sozialordnung mit 85.000 Mark unterstützt - und ist damit eines der wenigen Projekte, die nach Auslaufen der Modellphase (Ende 1997) regelfinanziert werden. "Darauf sind wir ein bißchen stolz, denn das zeigt uns, daß wir mit unserem Konzept auf dem richtigen Weg sind", sagt Birgit Schopmans, deren behindertengerechte Arbeitsplatzausstattung ebenfalls vom LWV finanziert wurde. Sie wünscht sich, daß das Koordinationsbüro behinderter Frauen auch über 1999 hinaus weiterfinanziert wird. "Um eine Lobby für behinderte Frauen aufzubauen, ist die Kontinuität der Arbeit wichtig".
Die Angebote des Büros sind vielfältig. Es fungiert zum Beispiel als Informationsstelle: Behinderte Frauen, die eine Selbsthilfegruppe gründen oder auf andere Weise aktiv werden wollen, können sich ebenso an das Büro wenden wie diejenigen, die zum Beispiel zur Situation behinderter Frauen forschen. Denn es steht ein in dieser Form einzigartiges Archiv mit über 700 Publikationen zur Verfügung,, die nach Absprache einsehbar sind. Und nicht zuletzt veranstaltet das Büro eigene Seminare und Tagungen wie etwa einen Selbstbehauptungskurs, Workshops zur Situation behinderter Mütter und zur beruflichen Situation behinderter Frauen.
"Der Bedarf für solche Veranstaltungen ist da", sagt Birgit Schopmans "denn der Erfahrungsaustausch ist vielen wichtig". Beispiel behinderte Mütter: Im Gegensatz zu nichtbehinderten Frauen, für die Mutterschaft wieder attraktiver gemacht werden solle, werde Frauen mit Behinderung häufig das Recht auf eigene Kinder abgesprochen. Und auf dem Arbeitsmarkt sind die Chancen behinderter Frauen begrenzt: Laut Koordinationsbüro sind nur knapp 30 Prozent der behinderten Frauen in Hessen erwerbstätig.
Eine Situation, die bundesweit ähnlich ist. Vor diesem Hintergrund entstanden in den vergangenen Jahren, unterstützt vom Hessischen Koordinationsbüro für behinderte Frauen, ähnliche Kontakt- und Beratungsstellen in Münster, Lübeck und Mainz. Und in fünf Bundesländern wurden Netzwerke behinderter Frauen gegründet, die allerdings bislang auf ehrenamtlicher Basis arbeiten. Überdies initiierte das Hessische Koordinationsbüro das im vergangenen Jahre gegründete "Bundesnetzwerk Behinderter Frauen". "Die Arbeit wird uns so bald nicht ausgehen", sagt Birgit Schopmans.
Immer neue Ideen
Das gilt allerdings nicht nur für das Koordinationsbüro, sondern für den gesamten Verein, haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter doch immer wieder neue Ideen, wie sie behinderte Menschen unterstützten können. "Arbus" heißt beispielsweise das jüngste fab-Projekt: "Ambulante Rehabilitation für Blinde und Sehbehinderte". Ein Angebot, daß sich an Menschen richtet, die im Erwachsenenalter erblindet sind und im Großraum Kassel wohnen. Sie können über "Arbus" eine ambulante blindentechnische Grundausbildung durchlaufen. "Fest steht", sagt Riester, "daß wir in all den Jahren immer wieder großzügige Unterstützung durch den LWV bekommen haben. Ohne die wäre vieles nicht möglich gewesen."
Gundula Zeitz