HNA, NR. 203 SAMSTAG, 1. SEPTEMBER 2001
Behinderte Menschen stehen täglich vor den verschiedensten Hürden. Ein neues Gleichstellungsgesetz soll dies ändern. Detlef Sieloff sprach darüber mit Dr. Andreas Jürgens, der an dem Gesetzentwurf mitarbeitete.
In Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes heißt es ganz klar: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Warum bedarf es trotz dieses Benachteiligungsverbots noch eines Gleichstellungsgesetzes für behinderte Menschen?
Jürgens: Zum einen, weil die Norm in der Verfassung sehr allgemein ist. Es ist sehr schwierig, hieraus im Einzelfall konkrete Rechte abzuleiten. Zum anderen, weil die Grundrechte nicht unmittelbar zwischen den Bürgern untereinander gelten. Sie haben nur Wirkung gegenüber der Verwaltung. Alles andere muß gesetzlich geregelt werden.
Welche wesentlichen Verbesserungen bringt das Gesetz?
Jürgens: Ganz wichtig ist die Barrierefreiheit. In verschiedenen einzelnen Gesetzen wird der Grundsatz der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung konkretisiert - sowohl im öffentlichen Personenverkehr als auch im Luftverkehr oder im Fernstraßenrecht.
Der zweite wichtige Punkt ist die Anerkennung der Gebärdensprache als eigenständige Sprache. Damit wird die Möglichkeit für gehörlose Menschen, in ihrer eigenen Sprache zu kommunizieren, deutlich verbessert.
Und drittens gibt es im Verfahrensrecht deutliche Verbesserungen durch die Einführung eines Verbandsklagerechts. Das heißt, die Verbände behinderter Menschen können Rechte aus dem neuen Gesetz künftig stellvertretend für die Betroffenen geltend machen - notfalls eben auch vor Gericht.
Welche Vorschriften sind konkret geplant, um die Barrierefreiheit zu erreichen?
Jürgens: Es gibt zum Beispiel eine Vorschrift, die ins Gaststättenrecht eingefügt werden soll. Danach ist die Konzessionierung einer Gaststätte künftig auch daran gebunden, dass die Räume stufenlos zugänglich sind. Dies soll für neu gebaute oder wesentlich neu gestaltete Gaststätten gelten.
Sind nicht schon heute viele Einrichtungen behindertengerecht ausgebaut worden? Hat sich da bisher zu wenig getan?
Jürgens: Das ist sehr unterschiedlich. Nach meiner Beobachtung hat sich sehr viel getan im Bereich der öffentlichen Gebäude, der Rathäuser beispielsweise. Beim öffentlichen Personennahverkehr gibt es Städte und Landkreise, die die Barrierefreiheit sehr vorbildlich eingeführt haben, andere dagegen haben in dieser Richtung noch gar nichts getan. Kassel liegt da im Mittelfeld - es gibt gute Beschlüsse des Stadtparlaments zur Herstellung von Barrierefreiheit, die jetzt umgesetzt werden müssen.
Was bringt das Verbandsklagerecht für die Behinderten? Können Sie ein Beispiel nennen?
Jürgens: Bleiben wir beim Beispiel Gaststätten. Wenn ein neues Lokal eine Konzession erhält, obwohl es nicht barrierefrei ist, dann wäre dies ein Verstoß der Behörde gegen das Gesetz. Für den einzelnen Betroffenen wäre es aber nicht möglich, rechtlich dagegen vorzugehen, weil er an dem Rechtsverhältnis zwischen der Behörde und dem Wirt nicht beteiligt ist. Künftig sollen die Behindertenverbände hier die Rechte stellvertretend für alle Betroffenen geltend machen können.
Welche Auswirkungen hat die Anerkennung der Gebärdensprache?
Jürgens: Mit der ausdrücklichen Anerkennung der Gebärdensprache wird diese der deutschen Lautsprache gleichgestellt. Künftig gibt es einen Anspruch, mit Bundesbehörden in der Gebärdensprache zu kommunizieren. Das Sozialgesetzbuch IX. Buch hat bereits zum 1. Juli dieses Jahres das Recht eingeführt, bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen die Gebärdensprache zu benutzen. Dies wird jetzt erweitert auf alle Bundesbehörden. Wir hoffen, dass die Landes- und Gemeindebehörden nachziehen.
Das gilt entsprechend auch für die Blindenschrift?
Jürgens: Genau. Bescheide von Bundesbehörden müssen künftig auch für blinde Menschen "lesbar" sein.
Hat das Gleichstellungsgesetz auch Auswirkungen auf das Arbeitsrecht?
Jürgens: Nein, weil die arbeitsrechtlichen Regelungen bereits verabschiedet sind. Seit dem 1. Juli gibt es im Sozialgesetzbuch IX. Buch ein Verbot der Benachteiligung schwerbehinderter Arbeitnehmer im Arbeitsrecht, verbunden mit einem Schadenersatzanspruch gegenüber dem Arbeitgeber, wenn er behinderte Menschen bei der Einstellung oder bei der Beförderung benachteiligt.
Aber natürlich muss dies nachgewiesen werden. Die Beweislast liegt prinzipiell beim Arbeitnehmer, aber es gibt eine Beweiserleichterung: nämlich dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, dass der Arbeitgeber auf Grund der Behinderung benachteiligt hat.
Das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes und das geplante neue Gleichstellungsgesetz regeln vorwiegend das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, strahlen aber kaum ins Zivilrecht aus: Welche weitergehende Forderungen erheben Sie für das von der Bundesregierung geplante Antidiskriminierungsgesetz?
Jürgens: Es gibt Fälle, in denen Unternehmen Verträge ohne Beschränkungen anbieten, dann aber doch - mit welcher Begründung auch immer - Behinderte davon ausschließen. Wir vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen sind der Meinung, dass dieses unzulässig sein soll und dass der betroffene Behinderte dann Anspruch auf den Abschluß dieses Vertrages hat. Konkret: Eine ganze Reihe von Versicherungsgesellschaften lehnt es generell ab, mit geistig - oft aber auch körperlich - Behinderten Haftpflicht-, Kranken- oder Lebensversicherungsverträge abzuschließen. Dies sollte nach unserer Vorstellung künftig ausgeschlossen sein.
Dr. Andreas Jürgens ist Amtsrichter und Sprecher der Grünen in Kassel. Er war maßgeblich an der Ausarbeitung des neuen Gleichstellungsgesetzes für behinderte Menschen beteiligt. Der 44-Jährige ist zugleich Betroffener. Wegen seiner Glasknochen-Krankheit sitzt er - ebenso wie sein Zwillingsbruder Gunter - im Rollstuhl.
Arbeitete am Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen mit: Amtsrichter Dr. Andreas Jürgens aus Kassel. (Foto: dpa)