NR. 121 KSS Pressespiegel HNA, DONNERSTAG, 25. MAI 2000
Der Lehrer Heinz Weißhaar hat Lebensläufe von in Kassel lebenden Behinderten zusammengetragen. Sie sollen Betroffene auffordern, ihr Leben in die Hand zu nehmen.
KASSEL* Ein bisschen Zeit muss man schon mitbringen, wenn man Heinz Weißhaar, Arndt Kunau und Gustav Zechmeister nach ihrem Leben befragen will. Nicht nur, weil jeder der drei in Kassel lebenden Behinderten aus einem anderen Grund, zu einer anderen Zeit und mit ganz unterschiedlichen Folgen erkrankt ist, sondern auch deshalb, weil sich alle drei unter anderem als sprachbehindert betrachten und Schwierigkeiten haben, sich selbstverständlich zu artikulieren.
Darum drückt Heinz Weißhaar dem Gast auch gleich zu Beginn des Treffens eine Broschüre in die Hand, die er gemeinsam mit seinen Freunden verfasst hat. Damit könne man sich in die Lebensläufe "einlesen", so Weißhaar. Ein "Buch über die Autonomie Behinderter", so der Titel.
In dem 35 Seiten umfassenden Heft werden unter anderem die drei Freunde vorgestellt, die sich an diesem Nachmittag im Vorderen Westen im Arbeitszimmer des Lehrers getroffen haben. Ihnen ist anzusehen, wie gerne sie ihre Aufzeichnungen mündlich erläutern würden, und das tun sie dann auch, jeder nach seinen Möglichkeiten.
Neues Leben
Mit wenigen Worten erzählt Weißhaar seinen Ausbildungsweg von der Lehre als Werker über das Abendgymnasium an der Goetheschule bis zu seinem Studium der Biologie und seiner Lehrertätigkeit an der Gesamtschule Waldau. Damals war Weißhaar noch nicht erkrankt, erst sein Schlaganfall vor zwölf Jahren stellte sein Leben auf den Kopf. Er musste sich ganz neu orientieren, nicht nur im Bezug auf den Rollstuhl, den er jetzt braucht. Arndt Kunau ist von Kindheit an spastisch gelähmt, hat die unterschiedlichsten Therapien, Sonderschulen und Behindertenwerkstätten durchlaufen und sich mit zunehmendem Erwachsenenalter allmählich aus seiner unselbständigen Situation, wie er sagt, befreit. Nicht nur schulisch schaffte er es, holte die mittlere Reife nach, sondern er wagte auch den "Sprung ins kalte Wasser", wie er betont, weg von zu Hause, mit 21 Jahren weg von den Eltern.
Und auch Gustav Zechmeister gehört zu den Mutigen, die trotz ihrer Behinderung ihr Leben ganz selbstverständlich in die Hand nehmen. Zechmeister erkrankte mit einem Jahr in Kasachstan an Kinderlähmung und 1988 an Leukämie. Er weist einen lückenlosen Ausbildungsweg auf und arbeitet, obwohl er seit 1989 eine
Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, seit sechs Jahren im
Werkhof Drusel und seit zwei Jahren als Verwaltungsfachkraft bei der Interessenvertretung "Selbstbestimmt Leben". Gemeinsam kämpfen die Freunde, die sich 1994 kennen gelernt haben, für die Autonomie behinderter Menschen.
Als Vorbild dient ihnen insbesondere die "People-First"-Bewegung aus Amerika, die Selbstbestimmungsgrup-pen aufbaut und fördert und die Weißhaar, Kunau und Zechmeister zu ihren Ansprechpartnern in ganz Deutschland bringen. Bei so viel konstruktiver Arbeit, resümiert Weißhaar, habe er gelernt, ein erfülltes Leben zu führen, und auch Zechmeister glaubt, dass er durch seine Krankheit viel bewusster lebe als andere Menschen. (pld)