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Zeitzeugin Birgit Schopmans berichtet

Liebe Birgit Schopmans, wir sitzen heute im Rahmen des Zeitzeugenprojektes von bifos zusammen und ich würde gerne ein Interview führen über deine Selbstbestimmung, über deine Aktivitäten und wie dein selbstbestimmtes Leben sich entwickelt hat. Ich möchte mit einem kleinen Porträt beginnen. Kannst du den Zuhörerinnen/Leserinnen zum Einstieg erzählen, wie du deine Kindheit in den ersten zehn Jahren mit Sehbeeinträchtigung erlebt hast?

Biografie

Okay, mein Name ist ja schon gefallen. Ich bin 50 Jahre alt, von Geburt an sehbehindert, das ist die fortschreitende Augenkrankheit Glaukom. Ich komme aus dem Rheinland, Niederrhein liegt in der Nähe der holländischen Grenze. Und als Kind gab es in den ersten Jahren viele Augenoperationen, wo eben versucht wurde, mein Sehen zu erhalten, Die Augenoperationen haben aber nur begrenzt etwas gebracht. Ab dem Schulalter haben die Operationen aufgehört und ich bin dann das erste Jahr in der Regelschule gewesen, in der Kleinstadt Strahlen. Das ging noch relativ gut vom Sehen her. Ich saß vorne und bin aufgestanden und zur Tafel gegangen. Ich hatte dicke Stifte und im ersten Schuljahr erlebte ich auch noch großen Druck beim Aufnehmen der Inhalte aus Büchern. Ab dem 2. Schuljahr bin ich dann auf eine sehbehinderten Schule nach Duisburg gekommen und mit 15 Jahren dann auf das Aufbaugymnasium für Blinde und Sehbehinderte nach Marburg mit angeschlossenem Internat.

Und du hast dann das Abitur gemacht und hast dich für das Studium entschieden. Welches Studienfach hast du gewählt?

Fachabitur und Studium

Ich habe das Fachabitur gemacht im Bereich Sozialwesen, weil recht schnell klar wurde, dass ich in den sozialen Bereich gehen wollte. Ich bin dann 1985 nach Kassel zum Studium gekommen und habe bis 1991 Sozialwesen studiert. Meinen Abschluss habe ich noch als Diplom Sozialarbeiterin/Diplom-Sozialpädagogin gemacht.

Welche Schlüsselerlebnisse hattest du in Deiner Kindheit? Wo musstest du dich anders einbringen, um ähnliche Wirkung wie andere Kinder zu erzeugen? Wo und wie hast du dich selbstbestimmt erlebt?

Die ersten Jahre, muss ich sagen, war natürlich die Augenerkrankung ein Thema, allein durch die vielen Operationen. Ich muss auch noch dazu sagen, dass meine Schwester die gleiche Erkrankung hat, auch ein Glaukom. Somit war es bei uns beiden ein Thema. Ich habe aber in der Freizeit festgestellt, dass meine Augenerkrankung auf dem Land als Kind nicht so ins Gewicht gefallen ist – mit den anderen Kindern. Ich habe mit ihnen gespielt, mit ihnen getobt, war beim Verstecken halt manchmal diejenige, die am längsten brauchte, um die anderen Kinder zu finden. Ja, manchmal war ich auch ungeschickter als andere, aber das hat mich nicht so sehr beschäftigt, weil ich sehr gut mit den anderen Kindern zurechtkam.
Erst in der Schule wurden die Unterschiede zu den anderen Kindern deutlicher. In der Schule wurde alles mühsamer, so dass ich immer wieder auffiel, weil ich sagte – „Jetzt gehe ich an die Tafel“ – und weil manche Arbeitsaufgaben auch länger gedauert haben. In dieser Zeit kamen dann auch schon mal die ersten Hänseleien. „Du guckst ja schief, du schielst, du Glotzauge“ und so etwas. Die Kindergärten waren zu dieser Zeit noch nicht so flächendeckend. Meine Mutter war die ersten Jahre auch zu Hause, von daher hatte ich noch nicht solche Erfahrungengemacht, aber in der Schule habe ich dann die ersten Unterschiede bemerkt und auch darunter gelitten. In diesen Momenten in der Schule habe ich gemerkt, dass es für einige andere Kinder manchmal komisch, eben anders war.

In welchen Momenten hast du dich aktiv für deine Bedürfnisse engagiert?

Mein Motto war: Nicht auffallen und nicht viel fordern

Indem ich bestimmte Hilfestellungen für mich einforderte, wie zum Beispiel die Tafel, dann kam ich zum Teil zu meinen Bedürfnissen. Aber ansonsten würde ich sagen, war ich als Jugendliche relativ zurückhaltend. Das änderte sich erst, als ich nach Marburg auf ein Schulinternat für sehbehinderte SchülerInnen kam. Ich habe immer unbewusst versucht, mich anzupassen, das ist eine große Gefahr bei Sehbehinderten. Damals hatte ich noch nicht so richtig gelernt, für meine Bedürfnisse einzutreten, sondern eher ein bisschen in der Masse unterzugehen. Das Motto war: Nicht auffallen und nicht viel fordern. Ich war froh, dass ich Freundinnen hatte und in einer Mädchengruppe dabei war, aber immer ein bisschen im Hintergrund.
Meine Eltern waren einerseits sehr offen. Meine Mutter hatte uns auch nicht geschont im Haushalt mitzuhelfen, das galt ebenso für die Gartenarbeit. Sie hat meine Schwester und mich nicht geschont weil wir eine Sehbehinderung hatten. Aber in der äußeren Welt ging es schon los mit den Hindernissen. Auf dem Land gab es keine öffentlichen Verkehrsmittel. Ich war immer abhängig von irgendwelchen Freundinnen, die mich mit einem Tandem abholten oder von meinen Eltern, die mich irgendwo hin gebracht haben. In diesen Momenten habe ich mich ein bisschen als Außenseiter gefühlt. Die Schule war eine Sehbehindertenschule, zu der ich jeden Tag pro Strecke eine Stunde Fahrzeit hatte. So hatte ich Freundinnen in anderen Städten, aber die Freundinnen vor Ort waren in ihren Sportvereinen. So war es mit den
Freundschaften insgesamt dünn gesät. Ich bin dann erst so richtig in Marburg erwacht, das war für mich eine neue Welt, in der ich aufleben konnte. Das Leben im Internat und der Kontakt zu anderen Jugendlichen gab mir Selbstbewusstsein. Auch andere selbstbewusste
Blinde und Sehbehinderte haben mich damals gestärkt. In Marburg konnte ich am Stadtleben teilhaben. Ich konnte überall mit dem Bus oder zu Fuß hin. Ich habe begonnen, politisch bewusster zu werden und mich in der Umwelt- und Friedensbewegung engagiert, war dann
viel auf Umwelt-, Friedens- sowie Anti-AKW-Demonstrationen. In der Zeit habe ich mich mit Behinderung noch nicht so richtig auseinander gesetzt. Vollends erwacht bin ich dann zum Studium in Kassel. In Kassel bin ich das erste Mal in die Welt der Nichtbehinderten geworfen worden, das hatte ich zuvor nur im ersten Grundschuljahr erlebt und da war ich noch ziemlich klein. Zu der Zeit begann ich mich erst richtig und bewusst mit Behinderung auseinander zu setzen.

Wie war der Studienanfang in Kassel für dich?

Studium in Kassel

Das war 1985. Damals habe ich angefangen, Behinderung als Politikum zu sehen.
Ich bin mit Ottmar Paul zusammen nach Kassel gekommen um zu studieren. Wir waren auch vorher in der gleichen Klasse zusammen und da haben wir beide bemerkt, dass wir aus einem Schonraum kamen. Wir waren auf so einem netten Internat mit progressiv gemischten Wohngruppen und konnten am kulturellen Leben teilnehmen. Ja, im Internat war alles auf uns abgestimmt. Wir erhielten gute kontrastreiche Fotokopien, hatten entsprechende Hilfsmittel, die in der Klasse standen. Es gab Vorlesemöglichkeiten, wenn wir Texte brauchten. Also, es war alles auf uns eingestellt und dann kamen wir an die Universität in Kassel. In unserem Semester waren wir drei sehbehinderte Studierende, ansonsten unter nicht behinderten Studierenden und dann diesen Effekt zu erleben, dass du irgendwie auffällst, dass du anders als alle anderen bist. Auch angehende SozialarbeiterInnen sind andere Menschen, aber bei ihnen fand ich den sozialen Touch schon manchmal lästig.
Bei der ersten Kontaktaufnahme spielte es auch keine Rolle was ich für Interessen hatte oder wie ich zum Studium der Sozialen Arbeit gekommen war, sondern ich wurde mit der Aussage: „Du siehst ja schlecht; wie ist es dann so für dich; wie kommst du damit denn so klar?“ –
empfangen. Und das war mein erster Kontakt und das sollten meine Kommilitonen sein, die alle aus dem sozialen Bereich kamen. Heute gibt es vielleicht ein anderes Bewusstsein und diese Fragen ohne Distanz und Empathie gehören zur Vergangenheit. Aber ich glaube auch, dass diese Personengruppe etwas anfälliger für derartige Szenarien ist.
Ich habe mich damals auch mit Ottmar Paul ausgetauscht. Wir hatten beide das Gefühl, dass wir zuallererst als Behinderte und nicht als interessanter Mensch wahrgenommen wurden. Manchmal wussten wir auch nicht, ob die Person Interesse an uns als Mensch entgegenbrachte oder nur etwas über das Leben mit einer Sehbehinderung erfahren wollte.
Diese Erfahrungen zeigten mir, dass es schwer ist mit der Kontaktaufnahme und deshalb war ich etwas unsicher, weil ich eben nicht wusste, was das Interesse bei den anderen Kommilitonen war.
Auf Uni-Feten und größeren Seminaren war es schwierig, Leute wiederzuerkennen und auf Leute zuzugehen. Die Barrieren, die ich in der Uni erlebte, waren z.B. die Overhead-Projektoren und die Dozenten, die nicht daran dachten, an die Wand projizierte Texte mitzusprechen. Wir bekamen auch super schlechte Kopien. Ich schrieb noch meine erste Studienarbeit mit der Schreibmaschine, Computer gab es noch nicht.
Es gab keinen Vorlesedienst, kein Vorlesegeld und da haben wir uns ziemlich behindert gefühlt. Der klassische Peer-Austausch zwischen uns war total wichtig. Wir profitierten auch von sehbehinderten Studierenden in den höheren Semestern, weil sie schon Erfahrungen
hatten.

Barrieren in den Köpfen

Damals habe ich begonnen, Behinderung als Politikum zu sehen. Vor meinem 15. Lebensjahr war ich auch schon im Austausch über mein Sehen und es war mir klar, was es heißt, als Mädchen schlechter zu sehen. Im Studium sah ich auf einmal die gesellschaftliche Seite, die Barrieren in den Köpfen der Anderen. Parallel entwickelte sich bundesweit die Behinderten-bzw. Krüppelbewegung, in der ich mich dann engagierte.
Durch unsere Erfahrungen in Kassel haben wir mitbekommen, dass es auch in anderen Städten Leute gibt, die sich treffen. Jemand hat dann gesagt, es gibt doch Behinderten- bzw. Krüppeltreffen in Melsungen und da wurden dann in erster Linie politische Themen bearbeitet, z.B: Humangenetik, aber es ging auch um die Frage: Was heißt Ambularisierung? und um behinderte Frauen. Damals gab es auch schon die Krüppelzeitung “Randschau”.
Wir hatten aber auch sehr viel Austausch unter uns und dabei ist dieses politische Bewusstsein entstanden auch über die Sehbehinderung hinauszudenken, nicht nur die eigene Behinderungsform im Blick zu haben, sondern Leute zu treffen, die im Rollstuhl sitzen. Auch Theresia Degener lernte ich damals kennen. Sie hatte keine Arme. Es ging auch um Gesetze, das Einfordern von Gesetzen zum barrierefreien Bauen oder zur Änderungen von Artikel 3 imGrundgesetz, „Niemand darf auf Grund seiner Behinderung benachteiligt werden“. Das waren die parallelen Stränge während meines Studienbeginns: Der Anfang der bundesweiten Krüppelbewegung und der Aktivitäten in Kassel sowie der Initiativen, die ich mit gegründet habe.

Wie hast du dich im Universitätsbetrieb zurechtgefunden? Hat dein politisches Engagement sich auf den Umgang mit Kommilitonen ausgewirkt?

Wir haben schon gelernt etwas offensiver mit der Sehbehinderung umzugehen und haben uns bestimmte Verhaltensweisen angeeignet. Zum Beispiel ging es damit los, Leuten zu sagen, „sprich mich an“, wenn ich irgendwo hinkomme, „weil ich dich nicht finde.“ Ich habe da ein paar Sachen für mich entwickelt, zum Beispiel zu sagen, wenn mich jemand anspricht, dass er den Namen dazu sagen soll, weil ich ihn nicht erkenne von einem kurzen Hallo.
Solche Umgangsformen wie: „wir treffen uns an der Straßenbahnhaltestelle“ oder „kannst du mich mal zur Toilette begleiten, ich kenne mich hier nicht aus.“
Einfach offensiver das anzusprechen, was ich brauchte. In die Mensa ging ich mit Kommilitonen zusammen, weil es noch keinen Service für Blinde und Sehbehinderte gab, der wurde erst später eingeführt. Ich musste mich ja selber bedienen, Kommilitonen fragen, „nimm mich mal mit und wenn es geht, bringe mir ein Tablett mit“, das war einfach ein Lerneffekt. Die Leute, die ich kannte, waren mein Netz von Personen, die auf mich zugegangen sind. Aber ich war mehr darauf angewiesen, eine gewisse Kontakt- oder Kommunikationsfähigkeit zu entwickeln. Andere Kommilitonen konnten einfach im Studierendenstrom laufen und da habe ich schon gemerkt, dass es gut und wichtig war, dass ich mich da getraut habe, Leute an zusprechen.

Du bist Mitbegründerin von verschiedenen Initiativen in Kassel. Wie ist es dazu gekommen und wo sind die Ideen entstanden?

Erstes politisches Engagement

Ich habe mich ab und zu im AStA der Universität Kassel mit ein paar behinderten Studierenden getroffen. Zuerst zum lockeren Kaffeetrinken und wir haben uns ausgetauscht, die Hessen sagen ausgemehrt, über die ganzen Barrieren, die wir haben und festgestellt, da müssen wir was verändern, insbesondere für bestimmte Prüfungsbedingungen, die sich langfristig auswirken. Eine behinderte Kommilitonin hatte schon mitgekriegt, dass es einen bundesweiten Zusammenschluss von Interessengemeinschaften behinderter Studierender gab, eine solche Interessengemeinschaft wollten wir auch hier in Kassel. Im Asta gab es schon ein Frauen-Lesben-Referat, ein Ausländer- und ein Schwulenreferat und da haben wir uns gesagt, dann muss es auch noch ein Behindertenreferat geben. Die aktiven behinderten Studierenden. die es gab, haben sich dann „Initiative Interessengemeinschaft behinderter Studierender“ genannt und die ersten Forderungen gestellt. Das war ein kleiner Kreis von vier bis fünf Studenten. Es gab dann schnell die erste Stelle für eine studentische Hilfskraft im Behindertenreferat. Wir haben dann viel von anderen Universitäten abgeguckt, die schon Vorlesedienste hatten und wo bei Umbauten auf Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer geachtet wurde. Wir konnten die Seminarräume mit Blindenschrift ausstatten und eine kleine Kassettenbibliothek einrichten. Damit hatten wir schon einiges erreicht.

Was waren deine ersten Schritte zur Selbstbestimmung, Schritte um überhaupt den Studienprozess zu erleichtern?

Es waren schon die Anfänge der Interessenvertretung wichtig, nicht immer zu sagen, dannbrauche ich halt länger oder dann muss ich im Nachhinein Kommilitonen fragen, was der Dozent zur Overhead-Präsentation erzählt hat. Stattdessen haben wir gesagt, das ist unser
Recht und das ist wichtig. Wir möchten es nicht jedes Mal neu erklären. Das sollte den Dozenten bewusst werden, um hier Standards zu setzen, damit wir für das Studium nicht immer mehr Zeit investieren mussten als nichtbehinderte Studierende. Mit Lupenbrille habe ich Studienarbeiten geschrieben, das hat einfach länger gedauert, aber an manchen Stellen konnten wir diesen Aufwand etwas verringern, um auch für nachrückende Studierende bessere Voraussetzungen schaffen zu können. Durch den Einzug der Computer Ende der 80ziger hatten wir dann Computersysteme mit Sprachausgabe sowie Braille- und Großschrift in der Bibliothek. Dafür hatten wir uns eingesetzt, dass diese Technik angeschafft wurde Es war für unser Selbstbewusstsein wichtig, dass wir etwas erreichen können. Wir waren damit nicht immer nur Bittsteller, sondern wir forderten auch Besserung, wenn beispielsweise Dozenten gute kontrastreiche Kopien vergaßen. Die Haltung des Bittstellers veränderte sich zu einer Haltung von Personen, die ihre Rechte wahrnehmen und Nachteilsausgleiche fordern. Viele Menschen mit Behinderung haben eine zurückhaltende Lieb-Nett-Dankbarkeitshaltung. Ein Slogan aus der Behindertenbewegung aus den 1980er Jahren war „Nicht immer lieb und nett sein, sondern fordere deine Rechte ein. Das ist dann Gleichbehandlung.“

War das einer der ersten Momente, in denen du die Dimension von Empowerment wahrgenommen hast?

Empowerment

Ja, ich würde das schon als Empowerment benennen. Erstmal ist dieses Peer-Gefühl eine Grundlage des Austausches mit anderen behinderten Studierenden. Es hat mich gefördert, für meine Interessen einzutreten und mit jedem Erfolgserlebnis selbstbewusster weiter zu gehen. Und ich glaube, dass schon die Anfänge der Selbstvertretung Empowerment sind. Das geht schon in die Richtung, deshalb sind wir im Studium auch weiter gekommen und in anderen Lebensbereichen.

Und welcher Bereich hat dich dann am meisten interessiert? Was waren so deine persönlichen Spuren?

Gründung des Vereins zur Förderung der Autonomie Behinderter

Eine Spur, die über den Tellerrand Universität hinausgeht und die Stadt Kassel in den Blick nimmt, sind in Kassel die Barrieren. In den ersten Jahren gab es nur vereinzelnd Blindenampeln und 1986/87 kamen ein paar Aktivisten der Behindertenbewegung aus Marburg nach Kassel. Z.B. Gisela Hermes oder Andreas Jürgens, die Namen sind auch teilweise in der Behindertenbewegung bekannt. Ottmar Miles-Paul und ich waren ja schon in Kassel.
Wir haben dann festgestellt, dass wir einiges in Kassel verändern müssen. Das Rathaus und die Straßenbahnen waren nicht barrierefrei, es gab nur wenige Blindenampeln. Die sind heute alle inzwischen barrierefrei in Kassel, die Busse aber nur teilweise. Und da haben wir auch eine große bundesweite Demonstration in Kassel organisiert: „Busse und Bahn für alle” und haben eine Aktionsgruppe in Kassel gegründet.
Für mich persönlich war wichtig, ambulante Unterstützung zu etablieren, weil immer wieder Leute nach Beratung fragten, wie bekomme ich einen Schwerbehindertenausweis, wie kriege ich als Blinder bestimmte Hilfsmittel bezahlt oder wie soll ich mit meiner Behinderung umgehen. Auf bundesweiten Treffen wurde immer wieder gesagt, ambulante Unterstützungfür behinderte Menschen mit Assistenzbedarf ist schwierig, damals hieß es noch nicht Assistenz. Wir wollen nicht etwas aufbauen, nicht nur Initiativen organisieren, die kein Geld, kein Angebot etablieren konnten. Und es gab ja schon die bundesweite „Interessenvertretung selbstbestimmt Leben“ mit Zentren in Bremen und Hamburg. Dann haben wir in Kassel etwas Vergleichbares aufgebaut, der fab, Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter. Wir haben dann eine hauptamtliche Unterstützung für einen ambulanten Hilfsdienst bekommen, um ambulante Möglichkeiten zu schaffen, eben die Beratungsmethode Peer Counseling.
Das war für mich der Anfang, meine erste Arbeitsstelle als Sozialarbeiterin.

Wie genau wurde die Stelle finanziert?

Wir hatten 1987 die Rechtsform eines eingetragenen Vereins und hatten dadurch die Möglichkeit Stellen zu schaffen. Ich habe gleich nach dem Studium 1992 dort angefangen. Zu der Zeit gab es für behinderte Menschen noch sehr gute Voraussetzungen um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) zu beantragen, da wurden 100% der Lohnkosten vom Arbeitsamt übernommen. Der Verein hatte bis auf Spenden, Bußgelder, Mitgliedsbeiträge, etc. wenig Geld. Wir konnten dann behinderte Menschen einstellen, die als Experten in eigener Sache tätig waren. Dort habe ich dann für eineinhalb Jahre als Beraterin gearbeitet.

Welche Art der Beratung und welche Themen lagen dir am Herzen?

Persönliche Beratung liegt mir am Herzen

Die Sachthemen waren natürlich wichtig, aber mir persönlich lag die psychosoziale Beratung mehr am Herzen, also Leute zu unterstützen im Umgang mit der eigenen Behinderung oder auch bei anderen behinderten Menschen das Empowerment zu fördern. Und was ich persönlich durchgemacht hatte, zu lernen für die eigenen Rechte einzutreten und diese erstmal zu erkennen und an andere weiterzugeben. Selbstverständlich nur, wenn die Leute das Bedürfnis hatten, sich in diese Richtung zu entwickeln oder auch Leute zu unterstützen, die erst vor kurzem ihre Behinderung erworben hatten. Dass sie sich akzeptieren lernen und nicht minderwertiger fühlen, weil sie eine Behinderung haben, sondern eher einen positiven Umgang damit finden. An diesen Themen hing mein Herz. Aber ich kann noch so ein tolles Selbstbewusstsein haben, die Behinderung angenommen haben, wenn ich die Hilfsmittel nicht bezahlt bekomme, die ich brauche oder die passende Wohnung nicht finde oder keinen Job finde, weil ich nicht weiß, das es Arbeitsassistenz gibt, dann hilft der selbstbewusste Umgang auch nicht so viel weiter. Von daher ist schon beides wichtig, aber diese Chance, dass ich auch als Peer agiere, fand ich wichtig, weil diese ganzen Sach- und Rechtsfragen auch ein Berater ohne Behinderung vermitteln könnte. Und hier fand ich die Beratungskombination sehr wichtig, dass ich eben auch parteilich arbeiten kann.

Welche Bedeutung hat Peer-Counseling in deiner Beratungsarbeit?

Peer-Counseling

Mit Peer ist in der Tat gemeint, dass Behinderte Behinderte beraten so wie Frauen Frauen beraten oder Schwule Schwule beraten usw.. Diese Methode ist dann auf behinderte Menschen übertragen wurden. Peer von gleichauf und Counseling bedeutet Beratung, das Stichwort ist dann natürlich Experte, Expertin in eigener Sache zu sein und da ist es einfach auch wichtig, dass ich auch in der Beratungsarbeit merke, wo mein Gegenüber steht.
Viele behinderte Menschen haben erlebt, dass nichtbehinderte Menschen manchmal besserwissen, was gut für sie ist und sie sich von oben herab behandelt fühlen. Beim Peer Counseling wird der Ratsuchende bestätigt, so dass er sich besser verstanden fühlt und die Hemmschwelle über Probleme und Ängste zu sprechen geringer ist, weil sie selber eine Behinderung haben. Natürlich habe ich als Berater eine andere Rolle, es ist wichtig, dass ich auch eigene Erfahrungen in die Beratung einbringen kann, zum Beispiel wenn jemand Fragen zur Assistenz hat. Dann kann ich auch aus meinen Erfahrungen mit Arbeitsassistenz oder persönliche Assistenz berichten. Das ist wichtig. Weil die eigene Erfahrung auch ein Lernen am Modell ermöglicht. Die Ratsuchenden merken, das hier ist eine Beraterin, die ist selber blind. Sie hat einen ganz guten Job und wirkt nicht als ob sie am Boden zerstört ist, sondern sie hat eher so eine positive Ausstrahlung, hat Familie und steht ganz gut im Leben. Das macht den Ratsuchenden auch Mut.

Bedeutung der Familie

Was bedeutet für Dich Familie, ganz gut im Leben stehen, einen guten Job haben, politisch aktiv sein?

Erstmal ist mir wichtig, dass jeder das verwirklichen kann, was ihm oder ihr wichtig ist, egal was ist und da sollte die Behinderung kein Hindernis sein. Ich kann z.B. nie Pilotin werden, trotz Assistenz. Mir ist persönlich Familie wichtig. Ich bin verheiratet, mein Mann hat eine Sehbehinderung, aber sieht für meine Verhältnisse noch relativ gut. Wir haben eine Tochter, die ist 17 Jahre alt. Die klassische Frage ist dann immer, ob sie normal sieht? Ja, sie sieht ganz normal, wobei ich die Frage auch schwierig finde. Die Frage ist zwar verständlich, gerade am Anfang, aber es hat manchmal genervt, wenn sie als erstes kam.
Ich habe eine Behinderung, die vererbt werden kann. Wenn es so wäre, dann ist es so, wir wollten ein Kind, auch wenn es eine Behinderung haben könnte. Die Wahrscheinlichkeit war nicht besonders hoch, wir haben gesagt, das wäre kein Hinderungsgrund und als Eltern mit Sehbehinderung können wir als Modell sozusagen da stehen und Unterstützung geben, weil wir auch unsere eigenen Erfahrungen gemacht haben. Also das ist mir schon wichtig, Familie, Freundeskreis und gute soziale Kontakte. Wichtig ist auch, dass mir das Leben einfach Spaß macht, ich einen Beruf habe, der mir gefällt und auch einen Beruf, den ich nicht nur absitze, sondern der mir was gibt. Ich will meine politische Anschauung mit meiner Arbeit verbinden oder meine innere Mission mit einbringen. Das ist positiv für mich.

Meine Mission: Empowerment

Deine eigene politische Mission, wie würdest du die benennen?

Im Prinzip ist der Punkt – Empowerment. Also andere behinderte Menschen zu ermächtigen bzw. zu unterstützen, noch inklusiver zu leben. Mich politisch für Verbesserung der rechtlichen Situation von behinderten Menschen einzusetzen. Das ist grundsätzlich mein innerer Auftrag und meine politische Arbeit. Die Beratung ist dann sozusagen das Instrument, mit dem ich behinderte Menschen unterstützen kann. Und da bin ich ja nicht alleine in der Beratung, sondern wirkte auch mit anderen an der Peer-Counseling-Ausbildung mit, die es bundesweit gibt. Ich habe an der Konzeption mitgearbeitet und als Dozentin in der ersten Zeit, um das Prinzip Empowerment weiter zu streuen.

Wie war dein Weg vom Sehen zum Nichtsehen?

Der Prozess des Erblindens

Ich bin seit etwa 20 Jahren völlig erblindet. Die Sehbehinderung hat schleichend zugenommen. Anfangs habe ich das noch nicht wahrhaben wollen. Mit 20 Jahren hatte ich das Gefühl, es ist jahrelang gleich geblieben und dann hatte ich die Vorstellung vielleicht bleibt es immer gleich. Dann habe ich leichte Veränderungen bemerkt. Ich musste aufpassen bei irgendwelchen Laternen, dass ich da nicht gegenlaufe. Oft habe ich festgestellt dass ich eine noch größere Vergrößerung brauche, bei meiner Lupenbrille. Am Anfang dachte ich, dass die Beleuchtungsverhältnisse in bestimmen Räumen schlecht sind, bis ich dann gemerkt habe, dass mein Sehen wieder schlechter geworden ist und da habe ich natürlich nicht hurra geschrien, obwohl ich wusste, egal wie stark jemand behindert ist, man ist nicht weniger wert.
Der selbstbewusste Umgang damit scheint erstmal theoretisch, aber die emotionale Seite ist anders: Dass mein Sehen schlechter wurde, dass ich erblinden würde hat mir Angst gemacht.
Obwohl ich auch blinde Freunde und Freundinnen hatte, die positive Vorbilder waren. Auch die Theorie hat mich im Verarbeiten unterstützt, aber ich musste trotzdem, auch als die Erblindung dann vollendet war, einen Trauerprozess durchlaufen. Ich hatte vorher die Tendenz, meine Sehbehinderung nicht so offensiv darzustellen, bin noch ganz lange ohne Stock gelaufen, damit ich nicht so auffalle. Und als ich erblindet war, habe ich Zeit gebraucht, um es zu akzeptieren. Ich war natürlich traurig darüber, dass ich vieles nicht mehr alleine machen konnte und einiges auf Assistenz umstellen musste, z.B. Vorlesen lassen. Irgendwann habe ich die Angst vor dem Ungewissen verloren. Der worst-case Fall war erreicht, irgendwann bin ich blind und dann kommt nichts mehr und dann kann ich mich auf die Kräfte, die ich habe einstellen. Kann meine Bedürfnisse, meine Wünsche verwirklichen, ja mit Hilfen und Hilfsmitteln, um das zu leben, was ich leben möchte. Ich hole für mich das Beste
aus meinem Leben heraus und der Austausch mit anderen war auch wichtig in der Zeit des Erblindens.

Welche Interessen geben dir Kraft?

Viele Jahre bin ich gerne Tandem gefahren, Zelten gegangen, in Ungarn, Frankreich und in Holland. Wandern gehe ich auch immer noch gerne, das sind dann so 20 km am Tag, wenn wir wandern in einer Gruppe. Reisen insgesamt habe ich mehr und mehr entdeckt, Interrail, fünf Wochen USA, Reisen mit Anbietern für Sehbehinderte und Blinde, die Kontakt gemeinsam mit Sehenden haben, sodass jede blinde Person eine Begleitung hat. Diese Reiseanbieter organisieren auch Führungen in Museen oder Stadtführungen. Es wird immer viel erklärt und beschrieben bei diesen Reisen. Ansonsten lese ich viel, gehe in die Sauna, praktiziere seit 15 Jahren Yoga und treffe Freunde.

Gibt es eine deiner Reiseerfahrung mit Tandem, die für Unabhängigkeit stehen kann?

Reisen

Bei den Reisen habe ich zwei Szenen im Kopf. Die eine ist eine Interrail-Reise mit zwei Freundinnen. Ich war die einzige Sehbehinderte und meine beiden Freundinnen haben sich zerstritten, das war in Südfrankreich an der Atlantikküste, wo wir Ende der 1980er gezeltet hatten. Die Freundinnen wollten nach Hause und ich wollte aber noch bleiben, weil das Interrailticket vier Wochen gültig ist. Wir hatten aber gerade erst vier Tage verbraucht, also habe ich mich entschlossen und es hat mich ziemlich viel Mut gekostet. Aber ich habe dann gesagt, ich bleibe jetzt alleine da. Ich war Anfang 20 und als sehbehinderte Frau alleine auf dem Campingplatz. Im Zelt hatte ich dann immer ein Messer bereit gelegt, weil mir es mirnachts nicht geheuer war. Und weil ich mit meinen zwei Freundinnen schon ein paar Tage dort verbracht hatte, wusste ich, wo es zum Strand geht und wo ich gut baden kann. Ich habe dann immer noch gerade so das Handtuch gefunden und fand auch den Weg zum nächsten Café und habe es auch irgendwie geschafft, zum Bus zu kommen, der mich nach Paris brachte.
Das war für mich ein wichtiges Erlebnis, dass ich das alleine geschafft habe, trotz meiner Sehbehinderung, Ich konnte auch kein Französisch, ich hatte doch Englisch und Latein in der Schule, manche konnten Deutsch oder ein wenig Englisch. Dass ich alleine mit dem Nachtzug nach Paris wieder zurückgekommen bin, das war ein Beweis, aber mein Sehrest hatte einiges möglich gemacht und es wurde für mich zur Grenzerfahrung.
Die zweite Reise ging in die USA, das war 1989. Da war ich in Berkeley und habe bemerkt, dass die Menschen viel offener mit Behinderung umgehen. Das war ein wichtiges Erlebnis, ich habe da teilweise auf dem Campus gesessen und meine Bücher mit Lupenbrille gelesen und
niemand hat mich angesprochen. In Deutschland hätten mich viel mehr Menschen angesprochen, „Ach was ist denn mit ihren Augen?“. Ich hatte das Gefühl, dass in den USA ein viel offener lockerer Umgang mit Behinderung herrschte. Vielleicht kam da mal “Having problems with the eyes”, aber nicht dieses Ausfragen. Es war einfach lockerer. Ich hatte dort auch kein Mitleid erlebt. Es herrschte dort eine andere Kultur der Weltoffenheit im Umgang mit Behinderung.

In welchen Lebenssituationen hast du Grenzen überschritten?

Eltern werden

Ich denke, dass ich eine Grenze überschreiten konnte, als meine Tochter geboren wurde. Als ich da trotzdem zu mir zu sagte, das schaffe ich irgendwie. In der Zeit habe ich mir auch Rat von anderen Müttern und Vätern geholt, die blind waren oder eben stark sehbehindert. Meine Tochter war auch sehr flexibel, das hatte ich bereits in einem Artikel beschrieben “Aus dem Alltag mit einer blinden Mutter” hieß der Artikel. Meine Tochter hat schon viel früher über Sprache kommuniziert oder mir ihr Brettchen in die Hand gedrückt, wenn sie noch etwas essen wollte, weil sie ja noch nicht sprechen konnte. Oder sie hat mir den Mund zum Füttern hingehalten, weil sie Hunger hatte. Diese Erfahrungen zeigten mir, dass man nur ein bisschen kreativ sein muss, um sich etwas zu trauen. Grenzen gab es natürlich auch, wobei ich durch Assistenz manche Sachen ausgleichen konnte. Und von daher war das schon wichtig. „Weil ich blind bin“ ist kein Grund zu sagen: „wir wollen kein Kind“, sondern wir wollten ein Kind und es ist toll, dass es geklappt hat.

Gibt es ein Lebensmotto, nach dem du lebst?

Ich möchte das Verwirklichen im Leben, was mir wichtig ist, Grenzen, die da sind, überschreiten und immer wieder Neues ausprobieren.

Vielen, vielen Dank für das Interview.

Kobinet-Nachrichten vom 07.08.2021